Matthias Jung


 

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Zeitsprung - Gemeinde 2030

 

 

Die Grünkraft Gottes

Ostern 2003

 

Liebe Gemeinde,

vor drei Wochen haben wir hier in der Kirche begonnen, auf das schwarze Erdkreuz Weizen zu säen. Wir haben uns dabei berufen auf Jesus, der gesagt hat: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein, wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht. Wir haben gesät in der Hoffnung, dass die Weizenkörner keimen und das schwarze Kreuz bis Ostern grün wird. Jede und jeder, die oder der in diesen drei Wochen hierher ins Gemeindehaus kam, war eingeladen, ein Korn zu nehmen und es in die Erde zu legen.

Als ich diese Aktion vorbereitet habe, war ich mir nicht sicher, wie die Gemeinde darauf reagieren würde. Die Reaktionen haben meine Erwartungen bei weitem übertroffen. Die Gottesdienstgemeinde war sofort bereit, mit zu machen. Auch die Kindergartenkinder, die zu einer Meditation hierher kamen, waren Feuer und Flamme. Aber auch die Konfirmandinnen und Konfirmanden wurden von dem Kreuz magisch angezogen. Einer ist mir dabei besonders aufgefallen: eigentlich fand er die ganze Sache ja eher uncool, auf der anderen Seite zuckte es in seinen Fingern. Schließlich ging er dann doch noch hin und pflanzte sein Korn. Und als das Grün zu sprießen begann, fanden Menschen, die hierher kamen, das grüner werdende Kreuz faszinierend. Die Symbolik des schwarzen Kreuzes, welches sich in grün  verwandelt, schien unmittelbar zu wirken.

Mit diesen Reaktionen wurde die Idee, die hinter dieser Aktion steht, für mich eindrucksvoll bestätigt. Der Gedanke der grünenden Kreuzes geht zurück auf einen Begriff, den die mittelalterliche Mystikerin Hildegard von Bingen geprägt hat. Sie sagt: "Es gibt eine Kraft aus der Ewigkeit und diese Kraft ist grün." Immer wieder spricht Hildegard von der Grünkraft Gottes. Grün ist für sie die heilige Farbe, eine "Herzkraft himmlischer Geheimnisse, die die Herrlichkeit des Irdischen nicht fasst." Diese Grünkraft ist von Gott gezeugt und wirkt von daher in allem Grünen, die Pflanzen und die Natur, aber auch im übertragenen Sinne alles was lebt. Grün ist für sie die Keim- und Schöpfungskraft, die sich zum Beispiel auch in der Vereinigung von Mann und Frau und dem daraus entstehenden neuen Leben zeigt.

Diese zentrale Bedeutung der Farbe Grün für Hildegard von Bingen ist für die damalige Zeit ungewöhnlich. In der christlichen Kunst spielt diese Farbe dis dahin kaum eine Rolle. Rot, Blau, Gelb, Gold, das sind die mittelalterlichen Farben der Malerei und der Kirchenfenster. Grün ist allenfalls der schmale Streifen, auf dem sich das irdische Leben abspielt, die himmlischen Dinge geschehen darüber. Eine Ausnahme gibt es allerdings und hier knüpft dann auch Hildegard an: es gibt schon im Mittelalter die Tradition vom Kreuzesstamm, aus dem das Grün sprießt. Aus dem Symbol des Sterbens, des Todes und der Trauer erwächst das neue Leben am Ostermorgen.

Von daher, von Ostern, von der Auferstehung her gewinnt das Grün für Hildegard zentrale Kraft. Von daher fließt das Leben und die Hoffnung in die Welt, die oft trostlos und traurig ist. Und vielleicht ist diese Hochschätzung des Grünen auch kein Zufall. Grün - das ist die Mischung aus Gelb und Blau. Also: die Mischung aus dem Licht der Sonne und der Farbe des Wassers, zwei für das Leben zentrale und unverzichtbare Dinge.

Hildegard von Bingen bleibt aber nicht bei der reinen Symbolik stehen. Sie entwickelt - wir würden heute sagen -: Übungen, Meditationen, mit deren Hilfe die Farbwirkung auf unser Leben ausstrahlen kann und so die Grünkraft Gottes mein Leben erreichen kann und soll. So empfiehlt sie zum Beispiel Menschen, die an überanstrengten Augen leiden - aber ich denke, nicht nur ihnen: "Es soll der Mensch hinausgehen auf eine grüne Wiese und sie so lange anschauen, bis seine Augen wie vom Weinen nass werden: Das Grün dieser Wiese nämlich beseitigt das Trübe in den Augen und macht sie wieder sauber und klar." Diese Grünkraft war für Hildegard schon in Abraham wirksam und in Maria, der Mutter Jesu, für sie die Mutter aller Medizin. Und selbstverständlich in Jesus, den sie "der grüne Lichtquell aus dem Herzen des Vaters" nennen kann und der im Heiligen Geist weiter wirkt.

So entwirft Hildegard ein umfassendes Bild der Schöpfung, durchdrungen von der Kraft des Schöpfers, die die Höhen und Tiefen des Lebens umfasst und welche ihr einendes Symbol in der Farbe Grün finden. Auch wenn ich keinen direkten Hinweis darauf gefunden habe, so würde ich sagen wollen: im Verständnis Hildegards von Bingen ist Grün auch die Farbe des Ostermorgens, in welchem sich die Leben und Hoffnung schaffende Kraft Gottes durchsetzt in einer Welt, die immer wieder von Tod, Trauer und Hoffnungslosigkeit durchzogen und bedroht ist.

Die Gedanken der großen Mystikerin gipfeln für mich in folgendem Lied, welches sie gedichtet hat:

"O heilende Kraft, die sich Bahn bricht!
Alles durchdringest du,
die Höhen, die Tiefen
und jeglichen Abgrund.
Du bauest und bindest alles.

Durch dich träufeln die Wolken.
regt ihr Schwingen die Luft.
Durch dich birgt das Wasser das harte Gestein,
rinnen die Bächlein 
und quillt aus der Erde das frische Grün.

Du auch führest den Geist,
der deine Lehre trinkt,
ins Weite.
Wehest Weisheit in ihn 
und mit der Weisheit die Freude."

Amen.

 

(Die Gedanken und Textstellen sind entnommen aus: Ingrid Riedel, Hildegard von Bingen. Prophetin der kosmischen Weisheit; Kreuz-Verlag 1994)

 

Dazu gehört die Predigt: Wenn das Weizenkorn nicht... (Johannes 12, 20-26)

Kreuz

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